Das Tunguska Meteorit

(c) Stuart Savory, 1984

Dieses Tagebuch nehme ich strahlend mit in mein Grab, damit keiner je das furchtbar gefährliche Geheimnis meines Mannes erfährt! Amen.

Aber ich will von Anfang an alles richtig erzählen. Ich bin eine geborene Sklodowska, getauft Marie. Am siebten November 1867 kam ich in Warschau zur Welt. Mein lieber Mann, Pierre, war schon da, nämlich seit dem fünfzehnten Mai 1859. ich wuchs zeitweise in Polen auf, zeitweise in Rußland und beendete mein Studium der Chemie mit einer Promotion an der Universität in Paris. Meinen lieben Pierre traf ich an der Pariser Universität, er hatte dort Physik studiert. Eigentlich war er schon damals ein recht berühmter Forscher. Er war gerade einundzwanzig geworden, als er mit seinem (etwas weniger talentierten) Bruder Jaques die Piezoelektrizität entdeckte. Ich war damals dreizehn und ahnte nichts, aber gar nichts, von der Existenz meines über alles geliebten Pierre.

Ich erinnere mich, wie ich später als junge Studentin in seine Vorlesungen ging, nicht etwa weil ich Physik studieren wollte, sondern einfach, weil er so hübsch aussah mit seinem pechschwarzen, lockigen Haar und seinen steifen, weißgestärkten Hemden. Ich habe mich eigentlich sehr früh in ihn verliebt, aber er hatte kaum Zeit für eine unbedeutende kleine ausländische Studentin. Unverschämt, wie ich war, fragte ich seinen Bruder Jaques, wie ich ihm dann kennenlernen könnte. Er meinte, er würde mich formell vorstellen, aber Pierre sei nur durch starke Ideen und starke akademische Leistungen zu beeindrucken. Langer Rede kurze Sinn, ich strengte mich an und bekam überall die Note eins; auch bei Pierre in den Physikprüfungen im Sommer 1894.

Ab da nahm er mich ernst. Wir spazierten lange abends im Bois du Boulogne am Stadtrand von Paris und kamen uns näher. Er erzählte meist von seinen Forschungen über geheizte Magnete und über eine wirr klingende Idee, daß Atome auch zu teilen wären. Gelegentlich, wenn wir Clochards sahen, fing er beherzt an, über die sozialistischen Werke eines gewissen Friedrich Engels und eines gewissen Karl Marx (letzterer aus London), zu dozieren.

Pierre erzählte aus seiner Jugend. Als er gerade zwölf Jahre alt war, wurden die ersten Arbeiterkommunen als sozialistische Idylle in Paris gegründet. Empört erzählte er, wie die Regierenden die armen Kommune-isten (wie er sie nannte) gnadenlos erschossen, vertrieben oder ggf. einsperrten. Pierre hatte sehr viel Sympathie für diese Arbeiter in ihrer Armut, obwohl er selber eher zu einer gehobeneren Klasse gehörte. Sein Gerede wurde dann auch immer wirrer, immer fanatischer.

1895 gelang Pierre eine weitere Entdeckung. Er zeigte experimentell, daß ferromagnetische Stoffe ihren Magnetismus bei bestimmten hohen Temperaturen verlieren. Diese Umkehrtemperatur wurde fortan nach ihm benannt und die dazugehörigen physikalischen Gesetze ebenfalls namentlich als seine Gesetze weltweit bekanntgemacht. Wir feierten. Abends stellte er mir dann DIE entscheidende Frage, die ich sofort bejahte und so heirateten wir auf der Welle des Erfolgs noch im gleichen Jahr. Ich war damals 28 und mein über alles geliebter Pierre war schon 36. Wir waren sehr glücklich!

Nach der Hochzeitsnacht, im Morgenrot, haben wir nur über unsere Träume, Ziele und Weltanschauungen geredet. Nicht sehr romantisch, aber was soll's? Pierre erzählte eine recht kuriose Geschichte - und als seine soeben angetraute Frau müsse ich ihm das glauben - die er immer wieder in einem Traum erlebte. Pierre behauptete, daß er sogar im Moment seiner Geburt diesen Traum hatte.

"Es war wie Telepathie, Mariechen" berichtete er "Ich sah die rauchige Atmosphäre einer Londoner Kneipe. Zwei mir unbekannte Herren, die sich gegenseitig Fred und Carl nannten, redeten über die Ziele einer sozialistischen Welt. Sie erstellten an diesem Abend sogar ein sogenanntes 'Manifesto'. Du, Marie, ich bin sicher, es waren Marx und Engels! Als ich 11 war, im Jahre 1870 also, hatte ich diesen glasklaren Traum wieder. Als ich 24 war, hatte ich wieder denselben Traum in allen Einzelheiten. Es ging aber weiter. Ich war auserkoren, diese sozialistische Idee zu unterstützen - und zwar die Idee von der Revolution gegen den kapitalistischen Zaren Rußlands - mit einer Superwaffe meiner eigenen Bauart! Am nächsten Tag las ich als junger Mann in der Pariser Zeitung, daß der berühmte Ökonom Karl Marx in London gestorben sei. Das war 1893, Marie. Ich bin sofort nach London zur Beerdigung aufgebrochen. Vom Grab im Highgate Friedhof bin ich im Norden Londons irgendwo verwirrt herumgelaufen. Ein Londoner Pub zog mich magnetisch an. Ich ging hinein. Marie! Es war genau die Kneipe aus meinem Traum, das schwöre ich dir! Es gibt manchmal übernatürliche Kräfte, denen man nachgeben muß! Dieser Traum kam in dieser Hochzeitsnacht wieder. Er ging aber weiter; ich weiß nun, daß die Waffe aus dem Traum irgendwie mit geteilten Atomen zu tun hat. Das müssen wir jetzt erforschen!"

Nachdem ich meinen Pierre beruhigt hatte, beschloß ich, seine etwas wirre Weltanschauung zu ignorieren aber ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen. Schließlich war ich jetzt seine Frau!

Pierre hatte eine Theorie, die besagte, wenn Atome teilbar wären, dann müßten es vor allem die schweren Atome sein. Eventuell gäbe es Atome, die so schwer wären, daß sie unter dem eigenen Gewicht zerfielen! Also begannen wir, Uran zu untersuchen. Uran gewinnt man aus Teer. Circa eine Tonne dieses ekeligen klebrigen schwarzen Zeugs mußten wir behandeln, um eine Unze Uran zu gewinnen. Wir waren ein tolles Team. Pierre war ein brillanter Physiker und ich keine schlechte Chemikerin. So half der eine dem anderen. Wir waren auf der Jagd nach noch schwereren Elementen. Es war eine herrliche, ja glückliche Zeit, wenn auch mit schwerer Arbeit verbunden. Und was mir wichtig war, Pierre schien seine wirren Träume vom Arbeiterstaat und Sozialismus vergessen zu haben.

Im Jahr 1898, nach drei Jahren harter Arbeit, kam der Durchbruch. Ich isolierte ein neues, ein künstliches Element, das in der Natur nicht vorkommt. Zur Ehre meines Vaterlands Polen nannte ich es Polonium. Dann ging es Schlag auf Schlag. Mein lieber Pierre und ich, wir isolierten zusammen ein sich selbst teilendes Element! Die Gläser eines jeden Elektroskops fielen in der Anwesenheit des Elements binnen Sekunden zusammen. Wir nannten dieses Element Radium, das Strahlende! Ein paar Monate später, Pierre war auf einer Vortragsreise unterwegs, schaffte ich es, zusammen mit unserem Kollegen Schmidt diese Radio-aktivität (so hatten wir die mysteriöse Strahlung genannt) auch bei Thorium nachzuweisen. Alle Physiker und Chemiker Europas spendeten Beifall; ein berauschendes Gefühl!

Die nächsten zwei Jahre unserer Ehe verliefen besonders harmonisch. Durch den Erfolg unserer Arbeit angespornt, waren wir wie neu verliebt; es war eine herrliche Zeit! Mein liebster Pierre hatte eine neue Idee. Da sich das Uran offensichtlich im Atom spaltet und Hitze und neutrale Partikel freigibt, könnten bei einer genügend großen Menge des Urans immer mehr neutrale Partikel freigegeben werden, als durch benachbarte Atome absorbiert werden. So, rechnete er auf seinem Rechenschieber, mußte bei circa fünf Kilogramm Uran ein stetiger Energiefluß zu gewinnen sein, oder gar eine kleine Explosion wegen der freigesetzten Hitze stattfinden. Allerdings mußte er zunächst seine Uranmasse in zwei kleinere Massen aufteilen, damit es nicht schmolz. Dann mußte er die zwei Hälften sehr schnell zusammenkommen lassen (bevor sie durch gegenseitig erzeugte Hitze schmelzen konnten) und - voila - die fünf Kilo Uran mußten wie 500 Kilo TNT explodieren, meinte er. Um dieses Experiment durchführen zu können fing er an, Unmengen Uran zu isolieren - was leider sehr langsam ging ( so etwa 12 Gramm pro Woche). Die gewonnene Menge stapelte er sorgfältig an mehreren Stellen im Haus, die weit auseinander lagen, damit die vorhergesagte thermische Schmelze nicht eintreten könnte. Er war voll damit beschäftigt und ich als Chemikerin half ihm natürlich stets dabei.

Im Jahr 1900 kam aber eine bedeutsame Wende. Wir waren beide nach Zürich (Schweiz) eingeladen, um an der dortigen Universität über unsere Arbeiten zu dozieren. Mein lieber Pierre prahlte mit seiner neuen Theorie, ohne jedoch zu erwähnen, daß er in den vergangenen Monaten Uran isolierte und lagerte.

Dann traf uns dort das Unheil, welches letzten Endes unsere Ehe zerstörte. Bei unseren Vorlesungen an der Universität saß im Publikum eine sehr hübsche Landsmännin von mir, die inzwischen in Berlin lebte und wirkte. Sie war erst 30 Jahre alt und sehr hübsch, ein gewisses Frl. Luxemburg. Sie war promovierte Rechtsanwältin aus Berlin. Ich konnte sehen, daß mein Pierre sie sehr attraktiv fand. In ihrer Begleitung war ein gleichaltriger Exilrusse, ein gewisser Wladimir Illjitsch Uljanow, auch ein Anwalt. Am Ende des Vortrags beeilten sich die beiden, meinen armen Pierre anzusprechen. Leider waren sie beide fanatische Anhänger dieses Karl Marx; Sozialisten und Kommune-isten der schlimmsten Sorte! Sie redeten stets auf meinen Pierre ein, so, daß er sich wieder brennend für diesen verdammten Sozialismus interessierte.

Der bärtige Uljanow erzählte schlimme Geschichten aus dem kapitalistischen Rußland unter dem Zar. Er, Uljanow, habe mit nur siebzehn Jahre erlebt, wie sein Bruder von Soldaten des Zaren auf brutalste Weise zusammengeschlagen und umgebracht wurde. Er schwor schon damals Rache, sagte er. Schon als er elf war, 1881 also, bestieg Zar Alexander der Dritte den russischen Thron. Sofort fing die Repressionspolitik an. Industrialisierung überzog das bisherige Agrarland Rußland. Die Zahl der lohnabhängigen Arbeiter verdoppelte sich. Als Uljanow 20 wurde verschärften sich die Repressionen.

Im Jahr 1890 hatte der Zar die Gesetze zum Schutz der Frauen und Kinder aufgehoben. Uljanow sah seine Chance auf Rache gegen den Zaren und beteiligte sich an der Arbeiterbewegung - teilweise als ihr Führer - unter dem Tarnnamen 'Lenin'. Seine Proteste gegen die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterklasse ärgerten den Zaren und Uljanow wurde 1897 für drei Jahre nach Sibirien verbannt. Die transsibirische Eisenbahn befand sich damals im Bau; sie reichte damals schon bis Irtusk am Baikalsee. Uljanow wurde zuerst mit der Eisenbahn dorthin geschickt, dann mit dem Schiff nordwärts den Fluß entlang bis 50km südlich der Garnisonsstadt Wanawara. Danach wurde er auf schlechten Straßen der Taiga zu einem 40km nördlich gelegenen einsamen Armeekamp verschleppt, wo er drei Jahre in der Verbannung ausharren sollte.

Im Jahr 1898 wurde in St. Petersburg und Moskau die Sozial-Demokratische Arbeiter-Partei gegründet. Diese Partei schaffte es, Briefkontakt zu Uljanow in seinem Exil herzustellen. Uljanow hetzte in seinen Briefen die SDAP gegen den Zaren Nikolaus II auf. Als der Zar Anfang 1900 von diesem Briefverkehr erfuhr, schickte er Uljanow sofort ins Exil in die Schweiz. Und so trafen wir leider diesen fanatischen Möchte-gern-Revolutionär, der mehr auf Rache gegen den Zaren sann, als etwas für die Arbeiterbewegung zu tun. Letztere war nur Mittel zum Zweck.

Leider war mein sonst treuer und recht weltfremder Mann, Pierre, von dem hübschen Frl.Luxemburg regelrecht becirct worden. Er folgte dem Vorschlag der beiden, seine geplante Bombe der Arbeiterrevolution zur Verfügung zu stellen. Er erzählte von seinem immer wiederkehrenden Traum von Marx und Engels im Londoner Pub vor 40 Jahren und erzählte, daß er schon damals wußte, daß er für diesen Zweck kämpfen mußte. Er war nicht zu retten und nach unserer Rückkehr nach Paris arbeitete er Tag und Nacht, um sein Uranlager zu füllen.

Im Jahr 1902 hörte ich von den terroristischen Aktivitäten der Naradniki-Gruppe in Rußland. Ich erzählte aber meinem Pierre nichts davon, denn ich wollte nicht, daß er seine Bombe diesen abscheulichen Terroristen zur Verfügung stellte.

Das nächste Jahr war für Pierre sehr erfolgreich. Zusammen mit Monsieur Bequerel gewann er den Nobelpreis für Physik! Es war eine große gesellschaftliche Anerkennung seiner Arbeit. Doch bald wurde er die vielen Partys und Feierlichkeiten leid. Er meinte, nach dem Gewinn des Nobelpreises gäbe es keine höheren Ziele mehr in dieser schnöden neureichen Gesellschaft. Er wollte sich jetzt ausschließlich auf seine Bombe für die Arbeiterklasse konzentrieren; das Projekt, bei dem Uljanow auf strikteste Geheimhaltung bestanden hatte. Pierre rechnete aus, nach drei bis fünf Jahren Destillierarbeiten, hätte er genügend Uran für zwei seiner Bomben; eine zum Test seiner Idee und eine für die Arbeiterbewegung. Er hatte nur sehr vage Vorstellungen, wie die Bombe für die Arbeiterklasse eingesetzt werden sollte. Das überließ er Uljanow. Aber er wußte, daß die Bombe sein eigener Beitrag war.

Ich habe seine harte Arbeit geduldet, auch wenn ich nicht mehr direkt half. Denn wenigstens war er bei mir Zuhause und nicht bei diesem fanatischen Uljanow oder in den Armen des hübschen Frl. Luxemburg.

Uljanow schrieb uns im Jahr 1904, daß inzwischen in Rußland die transsibirische Eisenbahn fertiggestellt worden war. Und was tat der Zar? Sofort nutzte er die logistischen Vorteile dieser Eisenbahn aus, um einen Krieg gegen Japan zu beginnen! Viele russische Arbeiter wurden an die Front befördert und starben dort einen qualvollen Tod. Am 22. Januar 1905 demonstrierten Arbeiter vor dem Winterpalast des Zaren in St. Petersburg. Sie wurden von Wachsoldaten des Zaren erbarmungslos niedergeschossen. Blutsonntag. Uljanow sah erneut eine Chance. Er kehrte unter seinem Tarnnamen Lenin nach Moskau zurück und begann sofort für die Sache zu kämpfen, gar eine Revolution zu organisieren. An 26. Oktober wurde der erste Arbeiterrat gegründet. Am 10. Dezember aber wurde in Moskau der Aufstand, der unter Uljanows Leitung stand, vollständig niedergeschlagen. Uljanow mußte vor der Rache des Zaren wieder ins Exil fliehen.

Im März 1906 tauchte Uljanow leider bei uns in Paris wieder auf. Pierre meinte, er hätte jetzt genügend Uran für zwei Bomben. Uljanow sollte ihn nur an einen Ort bringen, wo er einen geheimen Test mit der ersten Bombe machen könnte. Uljanow schlug seinen Verbannungsort in Sibirien vor. Er meinte auch, Pierre sei zu berühmt, um einfach zu verschwinden; das würde zu sehr auffallen. Und so planten sie mit meinem Schwager Jaques, wie sie einen tödlichen Unfall vortäuschen könnten. Dann würde jeder glauben, Pierre sei tot. Ich wurde eingeweiht, weil ich die Rolle der trauernden Witwe spielen mußte. Ich war strikt dagegen, aber ich sah ein, daß mein über alles geliebter Pierre nicht umzustimmen war. Hauptsache, er lebte noch, dachte ich. Ich konnte nach seinen beiden Experimenten mit ihm im Ausland sicher weiterleben, sagte er.

Also besorgte Jaques am 19. April auf mysteriöseste Weise aus einem Pariser Krankenhaus eine noch warme Leiche. Die Leiche würde mit einen Anzug von Pierre bekleidet, und Papiere von Pierre würden in seiner Tasche plaziert. Pierre selber tauchte mit Uljanow unter. Jaques fuhr seine Pferdekutsche (zu) schnell durch den Bois du Boulogne; die Kutsche kippte um, und am nächsten Tag stand schon in allen Pariser Zeitungen, daß mein geliebter Pierre, der berühmteste französische Physiker, Nobelpreisträger usw., seinen frühen tragischen Tod bei einem Verkehrsunfall gefunden hatte!

Während ich die Rolle der trauernden Witwe spielte, reiste mein Mann mit diesem Fanatiker Uljanow über die grüne Grenze nach Rußland. Im Herbst erhielt ich einen kurzen Brief aus Moskau, es gehe ihm gut, meinte Pierre. Er habe nun etwas Russisch gelernt und der Plan verlief wesentlich langsamer, als er dachte. Denn überall lauerten die Soldaten des Zaren.

1907 änderte der Zar sogar das Wahlrecht zu Gunsten der besitzenden Klasse. Damit hatte die Arbeiterklasse erst recht keine Chance mehr. Pierre und Uljanow gaben den demokratischen Kampf auf Moskaus Straßen auf; sie beschlossen den Weg der Gewalt zu gehen. Pierre's Bombe sollte eingesetzt werden. Sie versteckten das Uran in vielen kleinen Gepäckstücken und achteten darauf, daß sie diese Stücke stets weit auseinander transportierten. Sie reisten dann, mit der transsibirischen Eisenbahn nach Irtusk. Von dort erhielt ich (allerdings erst einige Wochen später) einen Brief von meinem geliebten Mann, Pierre.

Sie schifften sich in Irtusk ein und reisten nach Norden über Wanawara zu Uljanows altem Versteck in der Taiga von Sibirien. Aus Wanaware erhielt ich 1908 einen Brief von Pierre, allerdings erst Monate später, denn Wanawara war ein gottverlassener Ort tief in der sibirischen Taiga.

Pierre schrieb, sie hätten lange grübeln müssen, wie sie die beiden kleinen Hälften seiner Bombe schnell genug zusammen bringen könnten. Keine mechanische Feder oder ähnliches wäre schnell genug, denn Pierre hatte schon damals ausgerechnet, daß die letzten 30cm Abstand zwischen den Teilen eigentlich in weniger als dem Tausendstel einer Sekunde überwunden werden mußten. Ansonsten würden die beiden Hälften aufgrund ihrer gegenseitigen Beeinflussung einfach schmelzen. Sie kamen auf die Idee, die eine Hälfte als Kugel in einer Kanone zu benutzen und die andere Hälfte kurz vor der Mündung der Kanone zu befestigen. Zwar würde die Kanone bei der resultierenden Explosion verloren gehen, falls tatsächlich das Äquivalent von 500 Kilogramm TNT erreichbar wäre, aber nur so ließe sich der Test durchführen. Mitte Mai brachen dann Uljanow und seine Bande eines Nachts in die Armeekaserne in Wanawara ein und stahlen eine pferdegezogene Haubitze!

Der nächsten Morgen mußte ein furchtbarer Schock für den Kommandanten gewesen sein, denn seine einzige Haubitze war verschwunden. Pierre beendete seinen Brief mit der Überlegung, daß er Ende Juni den Test machen wollte, da zu dieser Zeit der Meteoritenschauer aus ß-Tauriden immer auf die Erde niederging. Falls jemand seine Explosion sah, könnten sie sich immer damit herausreden, es sei nur ein Meteoriteneinschlag gewesen.

Der Brief traf erst am 30. Juni bei mir in Paris ein. Aufgeregt über Pierres Brief und irgendwie fasziniert von seinem Vorhaben, grub ich seine alten theoretischen Berechnungen aus der abgeschlossenen Kiste in der Dachkammer aus. Um irgendwie die riesige Entfernung zwischen mir und meinem geliebten Mann zu überbrücken und auch irgendwie an seinem immanentem Experiment teilzuhaben, fing ich an, seine Berechnungen nachzurechnen.

Und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken! Denn er schien sich gewaltig verrechnet zu haben! Wenn seine zwei fünf-pfündigen Uranmassen mit knapp zwei Mach aufeinander trafen, würde keine 'kleine' Explosion äquivalent zu 500 Kilogramm TNT daraus resultieren, sondern eine Explosion äquivalent 50 Millionen Tonnen! Mein lieber Pierre hatte sich glatt um den Faktor Hunderttausend verrechnet! Wie konnte das sein? Vermutlich hatte er seinen neumodischen Rechenschieber benutzt. Damit ließe sich auf einfachste Weise multiplizieren, sagte man. Die Mantissa auf drei Stellen genau! Aber leider müßte man dabei den Exponenten im Kopf stets nachführen. Und das hatte mein liebster Pierre nicht getan. Ich begann zu heulen. Denn ich hatte keine Chance, ihn zu warnen. Dort, in der Tunguska Region der Taiga in Sibirien war er fast zehntausend Kilometer von mir entfernt. Und er würde diese Wahnsinnsbombe heute, nur so zur Probe, eben als Experiment, zünden!

Eine solche Explosion wäre beinahe unvorstellbar! Mit einem ohrenzerberstenden Donner und einer furchtbaren Druckwelle müßte Pierre's Bombe über 1000 Quadratkilometer des sibirischen Waldes umblasen. Nach meinen Berechnungen würde die seismologische Schallwelle fast zweimal um die Welt gehen, wie ein apokalyptisches Erdbeben. Die ganze Bäume der Tunguska Region würde niedergewalzt. Allein der Explosionsblitz würde in Irtusk, über 800 Kilometer weit, zu sehen sein! Der Explosionskrater würde nicht nur einige Meter Durchmesser haben wie bei die Bomben den wir kennen, nein, nach meinen Berechnungen müßte dieser Krater einen Durchmesser von über einem Kilometer haben.

Und mein armer Pierre ahnte nicht, was auf ihn zukam; er würde sofort in einem riesigen Feuerball sterben! Er hat sich einfach um Faktor Hunderttausend verrechnet, mein armer Pierre. Fast wahnsinnig vor Angst um meinen lieben Mann lief ich schreiend in die mondlose Nacht auf die Straße hinaus.

Es war Mitternacht, und der mondlose Himmel über Paris war fast taghell. Leute lasen Zeitungen auf dem Gehweg, weit weg von jeglicher verblaßten Straßenlaterne. Andere spielten Boules auf dem Sand der Pferdewege. Und in dem Augenblick wußte ich, daß mein über alles geliebter Pierre, der erste Mann, der eine Uranbombe gebaut hatte, sicherlich tot war. Ab dieser hellsten aller Nächte verlor mein Leben seinen Sinn. Selbst mein eigener Nobelpreis für Chemie, drei Jahre später - das war im Jahr 1911 - konnte mich nicht trösten, denn mein geliebter Pierre war ohne jede Hoffnung tot, umgebracht von seiner eigenen Entdeckung. Der Rest meines Daseins ist daher nicht erwähnenswert. Darum schließe ich mein Tagebuch hier und jetzt.

Gezeichnet,

Marie Curie, geborene Sklodowska.


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