Tiere als Spiegel der Seele und Sinnbild der Kultur
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Schildkröte


Zum Symbol, zum Sinnbild gewordene Eigenschaften

  • In Asien und bei den indianischen Völkern galt die Schildkröte die Trägerin und Beschützerin der Erde. Wegen ihres gewölbten Panzers, der an einen trächtigen Leib erinnerte, wurde sie immer als mütterlich angesehen.
  • Ihr Panzer schützt die Schildkröte sowohl nach oben wie auch nach unten. Sie lebt in der Mitte, sowie der Mensch in der Mitte zwischen Himmel und Erde lebt. So betont sie die Mitte als den sicheren Ort des Daseins, inden alles Bestand hat.
  • Durch ihr hohes Alter wurde sie zum Symbol der Weisheitsgaben des Alters, des glücklichen langen Lebens, der Lebenszeit an sich und auch der Qualität von Zeit.


Trägerin der Erde

Seit 250 Millionen Jahren gibt es Schildkröten. Als Reptil vollzog sie die Entwicklung vom Wasserwesen hin zu einem Landleben. Diesen Evolutionsschritt beschreibt sehr schön der Mythos vom hinduistischen Gott Vishnu: Vishnu erschien zuerst in der Lebensform eines Fisches, und danach in der einer Schildkröte.

Der Panzer der Schildkröte ist ihr auffälligstes Merkmal. Er ist so hart und statisch stabil, dass er tatsächlich etwas tragen kann. Als Landschildkröte ruht ihre Unterseite so auf der Erde, dass man sie für einen Erdhügel halten könnte. Als Wasserschildkröte ist sie eher ein dicker "Brocken", der sich an Land schiebt und dort wieder wie ein "Hügel" erscheint. Ihre massive Körperform und ihr Wasser- sowie Landleben mag die frühen Menschen dazu inspiriert haben, sie sich als Träger von Bergen und sogar der ganzen Erde vorzustellen:

In altindischen Mythen hält ein Elefant die ganze Welt auf seinem Rücken, und er steht dabei auf einer Schildkröte. - In Altchina ist es die Meeresschildkröte "Ao", auf deren Rücken die ganze Welt ruht. Dort fand man kultisch genutzte steinerne Schildkröten mit Platten auf den Rücken. Diese Platten sollten auf magische Weise dazu dienen, die Erde auf dem gewölbten Rücken ruhig und stabil zu halten. - In mongolischen Mythen trägt eine goldene Schildkröte den Heiligen Berg der Welt, der so hoch ist, daß er den Himmel berührt, auf ihrem Rücken. - Viele der nordamerikanischen Indianerstämme nennen das Land "Turtle Island" (Schildkröten Insel). In ihren Märchen erzählen sie, die Schildkröte hätte aus dem Meeresgrund wieder und wieder Erde herauf geholt, und so das Land geschaffen.


Das Zuhause

Die Schildkröte ist ganz erdbezogen. Sie erschafft in den Mythen nicht die Welt, sondern dezidiert die Erde und sorgt für deren "Be-Stand". Wegen ihrer Eigenart, ihren Kopf häufig in ihr Inneres zurückzuziehen, galt die Schildkröte auch als Vorbild häuslicher weiblicher Zurückgezogenheit. In Griechenland war sie der Aphrodite heilig und aus ihrem Oberpanzer wurde die Leier gefertigt. Er wurde auch als magischer Schutzschild gegen Zauber und Feuer genutzt. Perseus soll sich damit vor dem "Bösen Blick" der Medusa geschützt haben.

Ihr Oberpanzer trug nach alter Vorstellung außen die Erde, und genau so stark schützte er nach Innen vor dem Einbruch der Welt in häusliche Schutzräume. Sie symbolisiert die Erde und das Heim. Der Kultautor Terry Pratchett bindet die Aspekte Erdetragen und Heimschützen in seinen Büchern zusammen zur Heimat Erde, die sich durch das Universum bewegt. Er läßt seine Scheibenwelt von einer Schildkröte, von "Great A'Tuin" tragen und schützen:

"Die Sternenschildkröte Groß A'Tuin gehört der Gattung Chelys Galactica an. Groß A'Tuin ist vom Kopf bis zur Schwanzspitze zehntausend Meilen lang. Auf ihrem Panzer stehen die vier Weltenelefanten auf deren Rücken die Scheibenwelt ruht. Das Geschlecht von Groß A'Tuin ist trotz einiger Expeditionsversuche noch immer unbekannt. Die Sonne der Scheibenwelt bewegt sich auf ihrer Umlaufbahn über den Rücken von Groß A'Tuin hinweg. Auf dem Panzer der Sternenschildkröte finden sich lauter Narben von Meteroriteneinschlägen. Groß A'Tuin bewahrt die Scheibenwelt vor Schäden indem sie mit dem Schnabel nach Meteroriten schnappt oder der Kurs durch das All geändert wird, um ihnen auszuweichen. Ohne das Magische Feld der Scheibenwelt würde Groß A'Tuin sofort sterben. Sie ist Forschungsobjekt der Astrozoologen und Astropsychologen." (http://www.thediscworld.de)

"Tuin" hat die Bedeutung von "Zaun" im Sinne von eingehegtem Gelände oder Garten. Auch "town" = die Stadt, und "Domus" = das Haus haben den gleichen Wortstamm. Great A´Tuin symbolisiert das Zuhause, die Energie der Erde, die sie zu unserer festen und stabilen Heimat während unserer Reise durch das Sonnensystem macht.


Planet Erde, Element Erde

Das Magnetfeld der Erde ist die "Landkarte" der Meeresschildkröte. Sie orientiert sich über einen Magnetsinn, der neben der Nord-Süd Wahrnehmung auch West-Ost Routen aus den Feldlinien "errechnet". So findet sie ihre Geburtsinsel in den Weiten der Ozeane wieder, um dort ihre Eier abzulegen. Sie gräbt diese in den Uferstrand unter genauer Berücksichtigung der Wasserhöhe bei Flut. Ebenso weiß sie, wodurch auch immer, wo und wie tief im Sand die optimale Brut-Temperatur für ihre Eier herrscht.

Ihre Augen sind bemerkenswert. Sie sieht unter Wasser sehr klar, rotgelbe Öltröpfchen in der Netzthaut bewirken, dass sie durch Nebel und trübes Wasser sehen kann. Sie hat den "Durchblick". Ihre Augenlinsen kompensieren zudem automatisch den unter Wasser anderen Brechungswinkel des Lichts, ihr Blick ist ungebrochen. Zudem hat sie im Auge spezielle Sinnenzellen, mit denen sowohl Infrarot- als auch Ultraviolettstrahlung als eigene Farben sehen kann. Ihr Blick reicht über die Ränder des menschlichen Spektrums hinaus. Sie sieht, sie erkennt die Erde zu Wasser und zu Land tiefer und weiter als andere Lebewesen, sie ist ihr Element. Ihre Sehkraft machte sie früher in der Volksmedizin zu einem begehrten Mittel bei Augenleiden.

Nach den Gesetzen des Feng Shui steht die Schildkröte für den Norden. So stabilisiert sie das Heim und hält es sicher. Erstaunlich viele Menschen halten sich auch bei uns in Europa Schildkröten im Garten oder im Haus. Im Internet gibt es viele Foren und Ratgeber für die Schildkrötenzucht. Ich glaube in ihrer Gemächlichkeit verstärkt oder vermittelt sie ihren Besitzern das Gefühl, zuhause "ihre Ruhe zu haben".

Noch eine persönliche Erfahrung: Vor Jahren begegnete ich auf den Galapagos Inseln an einer feuchten Stelle in einer Lichtung an die zehn riesigen Schildkröten. Sie lagen eng bei einander wie dicke Steine. Sie ruhten, aber eine ging auf seltsam nach innen gekippen Füßen ganz schwerfällig und unendlich langsam vor uns her. Ich dachte, wenn ihr ganzer Stoffwechsel so langsam arbeit wie ihre Art sich vorwärts zu schieben, dann muß sie wirklich uralt werden. Sie sah aus, als würde sie sich als Findlingstein fast unwerklich langsam einen Weg suchen. Erdgeschichtliche Bewegungen, Bergauffaltungen, Kontinentalwanderungen, die Erde nimmt sich Zeit. Diese Schildkröten wurden für mich zum Inbegriff des Elementes Erde und ebenso unseres Planeten.


Alter Instinkt und Altersweisheit

Der Panzer der Schildkröte sieht durch seine runde Wölbung, seine "hügelige" Form auch einem schwangeren Bauch ähnlich. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass eine ungepanzerte Kröte ganz allgemein als Symbol der Gebärmutter betrachtet wurde (Kapitel Frosch/Kröte). Eine Kröte mit einem eigenen Schutzschild stellt dann folgerichtig die durch die Bauchdecke geschützte Gebärmutter dar. Die Assoziation zur Erde liegt wieder nahe: So wie die Erde aus ihrem Inneren - durch ihre harte Kruste hindurch - Feuer, Berge, Wasser und Pflanzen entstehen läßt, so bringt die Schildkröte aus ihrer harter Schale ebenfalls Leben hervor.

Diese symbolische Bedeutung eines gebärenden und tragenden Urwesens hat die Schildkröte nicht nur im asiatischen und im indianischen Kulturraum, sondern nach C.G.Jung kollektiv für uns alle. Er berichtet über den Traum eines Patienten, in dem eine riesige Schildkröte im Bett liegt, die aus ihrem Maul ein lebendiges Kind ausspuckt. In seiner Deutung dieses Traumes schreibt er unter anderem: "Die Schildkröte ist etwas höchst Fundamentales - der Grundinstinkt, der unsere ganze psychische Welt trägt, denn die Welt ist unsere Psychologie, unser Standpunkt. Und unser Standpunkt wird von unseren Instinkten getragen, die Welt wird also von der Schildkröte getragen." Entwicklungsgeschichtlich ist sie so alt, wie unsere Instinkte alt sind.

Die Schildkröte ist nicht nur als Spezies sehr alt, sie wird auch sehr alt. Sie kann gut und gerne ein Alter von 170 Jahren und mehr erreichen. Ihr Altwerden ist neben ihrem Panzer symbolprägend für sie geworden.

Wer so alt wird wie die Schildkröte, der muß Geheimnisse der Gesundheit und Vitalität in sich bergen, in dieser Überzeugung wurde sie zu einem mächtigen Glückssymbol. In China ist es Tradition, ein Schildkrötenbild über sein Bett zu hängen, um ihre Segnungen an Gesundheit und Langlebigkeit zu erhalten. Schildkrötenamulette sind aus dem gleichen Grund sehr beliebt.

In den asiatischen Kulturen werden nicht nur Schildkröten ob ihres Altes geehrt, sondern auch alte Menschen werden traditionell hoch respektiert. Sie werden geschätzt, da Alter mit Weisheit, Klugheit und Zuverlässigkeit assoziiert wird. Diese Altersgaben und auch Treue, Ausdauer, Fruchtbarkeit und Stärke werden mit der Schildkröte in Verbindung gebracht, da sie wirklich uralt wird, und damit Schätze an diesen Tugenden gesammelt haben muß.


Die Schildkröte als die Mitte der Welt

Der rund gewölbte Oberpanzer der Schildkröte erschien den Menschen des chinesischen Kulturraumes nicht als Abbild der Erdkruste, sondern als Abbild des Himmelsgewölbes über sich. Sie dachten sich den Sternenhimmel entspechend den Segmenten auf dem Schildkrötenpanzer eingeteilt, mit dem Polarstern in der Mitte.

Die quadratische, flache Bodenpanzerplatte verstanden sie dann als Sinnbild - der als Scheibe gedachten - Erde unter sich. Die quadratische Form betrachteten sie als den vier Himmelsrichtungen entsprechend. Dazwischen war das Leben - ihr eigenes wie das der Schildkröte selbst. Sie war das Sinnbild der Mitte. F. Adrian schreibt in "Die Schule des I Ging; Hintergrundwissen": "Sie demonstriert im Kleinen das Idealbild der Großen Harmonie: ein Leben in der Mitte, im Zentrum zwischen Oben und Unten, zwischen Himmel und Erde."

Dieses In-der-Mitte-sein der Schildkröte ist genau ihr Schutz. Dort, in ihrem Panzer, ist sie unangreifbar. Das Leben auf der Erde ist gleichermaßen geschützt, solange der Himmel nicht einstürzt und die Erde nicht zerfällt. Der Schutz, den die Schildkröte ursprünglich symbolisiert, ist also der existenzielle Schutz der kosmischen und biologischen Überlebensbedingungen allen irdischen Lebens.

Die Schutzsymbolik der Schildkröte reduzierte sich erst im Laufe der Jahrhunderte auf ihren Oberpanzer, da die Menschen die größte Gefahr ihres alltäglichen Lebens von "oben und außen" drohen sahen.

Außer ihrem Körperbau war auch ihre lange Lebensdauer für die Schildkröte symbolprägend. In Japan wurde ihr eine Lebensdauer von zwölftausend Jahren nachgesagt. Sie galt in den asiatischen Mythologien als unsterblich. In diesem Sinn findet man sie häufig als Abbildung auf chinesischen Gräbern. Ihre mythologische Unsterblichkeit und ihre Unverwundbarkeit ließen sie zum Symbol ewigen und sicheren Überdauerns werden. Sie galt deswegen als Sinnbild der räumlichen und zeitlichen Unzerstörbarkeit der Welt - sowie des Lebens in der Welten-Mitte. In diesem Sinn nannte sich China "das Reich der Mitte".


Die Schildkröte und das "Tao"

Bleiben wir bei China, denn dort hatte die Schildkröte ihre wohl größte kulturelle Bedeutung erlangt.

Im China der Shang Dynastie (1800 - 1100 v.Ch.) war das Schildkrötenorakel lebens- und kulturprägend. Dieses Zeitalter war matristisch geprägt. Es entstand die zweite Fassung des I Ging, des "Buchs der Wandlungen", in dem nicht mehr wie in der ersten Fassung "der Berg" an erster Stelle stand, sondern "die Erde" als heiliger Schöpfungsgrund. ("Der Himmel" wurde dann in der patriarchal geprägten, späteren dritten Fassung des I Ging an die erste Stelle gesetzt.)

Die Unterplatte des Schildkrötenpanzers war das Orakelmedium jener Zeit. Sie wurde poliert und an bestimmten Stellen ausgehöhlt, in welche die Priester glühende Nadeln einstachen. Die durch die Nadelhitze in diesen Aushöhlungen entstandenen Risse und Spalten wurden als die Orakelantwort nach den Vorgaben des I Ging gedeutet. Aber nicht nur diese Risse galten als Antwort, sondern mehr noch die knackenden Geräusche, die bei der Entstehung dieser Risse erzeugt wurden. Das Orakel "sprach" darin als "Tao".

Die heute bekannte Bedeutung des "Tao" als "Weg; Gehen des rechten Weges" bildete sich erst später heraus. Zur Zeit der Schildkrötenorakel herrschte noch seine ältere Bedeutung: eine weibliche Gottheit der Gebirgsschluchten, Täler und Abgründe, Sümpfe und Quellen, die die Gebärerin von Himmel und Erde war, wurde im Zusammenhang mit diesem Begriff verehrt. Die Schildkröte lebte an solchen dieser Göttin heiligen Orten; sie sammelte dort "Tao" in ihren Körper ein. Deshalb, glaubten die Menschen, konnte die untere, erdzugewandte Knochenplatte der Schildkröte "wahrsagen", als "Tao" wahr sprechen. Am ehesten scheint "Wahrheit, Wissen" die Bedeutung von "Tao" zu treffen. Im I Ging heißt die formelhafte Ansprache der Orakelsuchenden: "...nahen wir Dir, erhabene Schildkröte, die du ewiges Wissen hast."


Vom Sinn der Zeit und des Alterns

Das besondere Verhältnis der Schildkröte zur Zeit zeigt sich durch das hohe Alter, das sie erreichen kann. Ihr Alter kann man nur an ihrer Größe abschätzen. Ihr Haut - außerhalb des Panzers - sieht wegen ihrer Runzeligkeit in jungen Jahren schon alt aus, oder im Alter immer noch so jung wie vor hundert Jahren. Sie inspiriert so Träume des Nicht-Alterns und der Zeitsprünge. Ein japanischen Märchen bringt dies poetisch zum Ausdruck:

Der junge Fischer Taro sah eines Tages am Strand, wie Kinder eine kleine Wasserschildkröte quälten. Er rettete sie und warf sie zurück ins Meer. Am nächsten Tag erschien eine riesige Zauberschildkröte und erzählte ihm, die kleine Schildkröte, die er gerettet habe, sei die Tochter des Meereskaisers. Der wolle ihn sehen und ihm danken. Die Zauberschildkröte schenkt Taro Kiemen und führt ihn zum Palast des Drachengottes am Meeresboden, in dem der Meereskaiser und dessen Tochter Otohime wohnen. Nach einiger Zeit möchte Taro wieder nach Hause um seine alte Mutter zu sehen. Otohime erlaubt es ihm und gibt ihn zum Abschied eine Schachtel mit, die er aber nicht öffnen dürfe. Als er an Land kommt ist nichts mehr wie es war. Sein Haus und seine Mutter sind verschwunden. Er fragt die Menschen ob jemand Taro, also ihn sebst kenne. Nur ein alter Mann erinnert sich an eine alte Geschichte, in der vor dreihundert Jahren ein junger Mann dieses Namens im Meer verschwunden sei. Taro begreift, dass er dreihundert Jahre im Meer verweilt hat und wird sehr traurig. Er öffnet die Schachtel von Otohime und eine weiße Wolke entsteigt ihr. Er altert, sein Bart wird weiß und sein Rücken krumm. Er hört Otohime taurig sagen, du solltest die Schachtel nicht öffnen, denn dein Alter steckt darin.

In diesem Märchen wird das tiefe Meer als Wohnsitz des Kaisers und seiner Tochter als der Wohnsitz der nicht linearen Zeit, des ewigen Augenblicks betrachtet. Das Meer ist der Sitz der Gefühle, es symbolisiert die Seele (See, sea). Und in diesen Erfahrungsreichen erlebt der Mensch die Zeit nicht linear, nicht als Quantität, sondern in ihrer Qualität. Erlebt man Wunderbares, dann scheint die Zeit stillzustehen. Ob man eine Woche oder einen Tag als endlos sich hinziehend oder als wie im Fluge vergangen erlebt, das hängt für uns von der Qualität, von ihrem emotionalen Wert für uns ab.

Taro verliert im Meer, im Meer der erotischen Gefühle für die junge Otohime jedes Gefühl für den Fluß der Zeit. So wird Glück beschrieben, im Flow sein, Momente des Verschmelzens mit einem anderen Menschen, einer Arbeit oder auch das Versinken in einen Abblick, in eine Musik, in einen Gedanken. Aber dies sind Zeitmomente des Lebens, sie füllen nicht die Lebenszeit aus. Taro aber will sie als Dauerzustand haben, er bleibt im Liebesrausch (im Meer bei Otohime) ohne zu bemerken, dass er alt darüber wird. Das Märchen ist aus dieser Sicht eine Parabel über die Zeit.

Betrachtet man die Märchen aus archetypischer Sicht, so erzählt es eine Geschichte einer inneren Stagnation. In einem jungen Mann (Taro) zeigt sich Anima und Animus als mütterlich und väterlich: Anima ist in ihm aktiv (er rettet die kleine Schildkröte) aber Animus (Meereskaiser) agiert unbewußt (Palast am Meeresgrund). Anima bringt ihm als mütterliche Instanz (riesige Zauberschildkröte) seine Sehnsucht nach ihrem anderen Aspekt, dem erotischen jungen Mädchen (Prinzessin Otohime) ins Bewußtsein (erzählt ihm von ihr noch an Land). Sie hilft ihm (gibt ihm Kiemen) in die Tiefen der Gefühle und Instinkte (Meeresgrund) abzusteigen. Dort kommt es zu einer Stagnation:

Seine jugendliche Anima ist zufrieden in kindlicher Vatergebundenheit (lebt im Meer beim Vaterkaiser) und hat entsprechend keinen Drang sich selbst zu Verantwortlichkeit, zur Mutter weiterzuentwickeln (Kinder quälen sie als Schildkröte). Die Entwicklung der Anima stagniert. Und da die Kraft seines Animus in ihm schläft (Meereskaiser bleibt passiv), stagniert auch die Entwicklung seines Animus. Beide Seelengestalten verweilen "zeitlos" im Unterbewußten (Meer), in jugendlichem Verliebtsein, im Rausch des Liebesglückes. Igendwann entwickelt der junge Mann in sich Sehnsucht "aufzuwachen" aus dieser Stagnation (Taro möchte seine alte Mutter sehen). Inneres Wachstum kann zwar stagnieren, aber früher oder später bricht es als Mangel oder Sehnsucht ins Bewußtsein durch. Ich sehe hier die Mütterliche Instanz (Zauberschildkröte) wirksam, die ihm den Abstieg in die Reiche der Gefühle und Instinkte ermöglichte (schenkte ihm Kiemen), und die in ihm nun auch wieder den Aufstieg aus diesen Reichen initiiert: sie erweckt in ihm Sehnsucht nach Weisheit, Wachstum und Verantwortung (weckt Sehnsucht nach seiner alten Mutter).

Das Ende des Märchen zeigt die Konsequenzen solcher Stagnation im Rausch der Jugend: Als Taro an Land seine alte Mutter sucht, ist diese verschwunden. Er öffnet die Zeit-Schachtel und wird augenblicklich uralt. Er ist jetzt traurig. Er war so sehr im Erosbereich der Dreifachen Großen Göttin versunken gewesen, dass er ihre zwei anderen Bereiche - die Mutter und die Alte Weise (alte Mutter) verloren hatte. Seine Seele, seine Anima ist unentwickelt jungendlich geblieben. Zu Bewußtsein bringt ihm das Animus als der Alte Weise (Alter Mann erzählt ihm, dass 300 Jahre seit seinem Verschwinden im Meer vergangen seien). Der junge/alte Mann (Taro) hat die Jahre der Reifung und Lebenserfahrungen, die Zeiten der eigenen Werterfüllung nicht erfahren. Er wird sterben, nachdem er hat sein Leben verpasst hat. Deshalb ist er traurig.


Langsamkeit und die Qualität von Zeit

Michael Ende´s modernes Märchen "Momo" erzählt vom Geheimnis der Zeit:

Kalte, graue, gespensterhafte Herren treiben unter den Menschen ihre Machenschaften. Sie wollen Zeit stehlen - um selbst davon wie Schmarotzer zu existieren. Sie verführen die Menschen immer schneller und immer rücksichtsloser vorwärts zu hasten, Zeit "zu sparen" - und dadurch viele ihrer Stunden, die sie in Freude hätten verleben können, an sie zu verlieren. Das Mädchen Momo aber können sie nicht verführen und nicht erpressen, ihre Zeit für irgend etwas zu opfern, denn Momo liebt es zu spielen und zuzuhören, weil sie aus ihrem Herzen lebt. Die grauen Herren wollen Momo vernichten, denn die Menschen lieben Momo, und wenn sie bei ihr sind, lieben sie auch ihre Zeit und denken nicht daran, diese "zu sparen". Meister Hora schickt Momo seine Schildkröte Kassiopeia, um sie zu ihm zu führen und sie so vor den grauen Herren zu retten. "Momo begann sich zu wundern, wie man so langsam gehen und doch so schnell vorwärts kommen kann."

Meister Sekundus Minutus Hora (Hora: lat. Stunde; das Wort "Uhr" leitet sich davon ab) wohnt in der "Niemals-Gasse" im "Nirgendhaus" - im Bereich außerhalb der Zeit - zusammen mit der Schildkröte Kassiopeia. Er teilt von dort aus jedem Menschen seine Zeit in wunder-vollen und wunder-schönen "Stundenblumen" zu, in denen die Stimmen von Sonne, Mond und Sternen klingen. Bei ihm geht die Zeit rückwärts, so wie sie bei den Menschen vorwärts läuft. Durch diesen doppelten, gegengerichteten Lauf, so erklärt er Momo, entsteht erst die Zeit und die Gegenwart.

Kassiopeia begleitet Momo dann und hilft ihr das Wagnis zu gewinnen, den Menschen ihre gestohlene Zeit von den grauen Herren zurückzuholen und diese zu vernichten. Ihre besondere Begabung, ein wenig in die Zeit voraussehen zu können, führt zum Sieg.

Die Schildkröte in ihrer Langsamkeit symbolisiert in diesem Märchen die Möglichkeit, wie das Leben in einer gehetzten Welt wieder aus dem Herzen, in Freude und voller Phantasie gelebt werden kann. Die Qualität von Zeit wird in ihrer Bedeutung wunderbar vermittelt gegenüber bloßer Quantität von Zeit.

Die Schildkröte versinnbildlicht auch den Aspekt der Einheit aller Zeit: Vergangenheit und Zukunft sind nicht getrennt vom Augenblick der Gegenwart, sondern vereint in ewiger Dauer.


Transzendenz
Eine alter I Ging-Lehrer erzählt von der Schildkröte als einer großen Lehrerin:

Die Schildkröte lehrt uns Transzendenz, denn sie vereinigt Pole des Daseins in sich, "Die komplementäre Spannung von Yin- und Yang-Potenzen, Außen hart, fest = Yang. Innen hohl, weich, aufnehmend = Yin. Niemals aggressiv, das Gleichmaß in der Bewegung suchend, aber immer bereit, sich zurückzuziehen und durch diesen Wechsel zwischen Außenwelt (Yang) und Innenwelt (Yin) dennoch beharrlich bleibend in ihrer kosmisch vorgegebenen Lebensbahn" (F. Adrian).

Die Schildkröte vereinigt Vergangenheit und Zukunft in der Ewigkeit des Augenblicks.
Fühlt ihr euch bedroht, so richtet euch auf mit dem Schildkrötenpanzer als eurem Schild. -
Fühlt ihr euch zerissen, so geht in euer Schildkrötenhaus und erlebt eure Mitte. -
Fühlt ihr euch vom Leben getrennt, so seid Yin und Yang wie die Schildkröte, und ihr erschafft euch neu.


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Cornelia Savory-Deermann Cornelia Savory-Deermann

Cornelia
Savory-Deermann
, geboren 1945 in Wuppertal, hat seit 1971 Englische Bulldoggen. Seit Mai 2005 haben die Bulldogs hier ihr eigenes deutsches Weblog bekommen:

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Die Buchkapitel:

Inhalt

Einleitung

Tiere als Spiegel der Seele

Tiere als Sinnbild der Kultur

Bilder von Maggie M. Roe

1. Adler
2. Bär, Bärin
3. Biber
4. Biene
5. Delphin
6. Esel
7. Eule
8. Falke
9. Fisch
10. Fledermaus
11. Frosch, Kröte
12. Fuchs
13. Gans
14. Hase
15. Hirsch
16. Huhn, Hahn
17. Hund
18. Katze, Kater
19. Krebs
20. Kuh, Stier
21. Maus
22. Möwe
23. Mücke
24. Muschel
25. Otter
26. Pferd
27. Rabe
28. Ratte
29. Reh
30. Schaf, Widder
31. Schildkröte
32. Schlange
33. Schmetterling
34. Schwan
35. Schwein, Eber
36. Seehund
37. Spinne
38. Storch
39. Taube
40. Wal
41. Wolf
42. Ziege, Z-Bock

Literatur-Verzeichnis




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